Die Poesie der vergangenen Zeit
Ich bin ja nun schon einige Jahre Bewohnerin dieser schönen Stadt. Aber immer wieder gibt es so No-Na-Net-Flecken, die man eigentlich kennen sollte, nein, die das kollektive Wien kennt und die es ausmachen, die man sich dann aber selbst und höchstpersönlich dann doch noch nicht angesehen hat.
Beispiel gefällig? Der Wiener Zentralfriedhof.
Es gibt Lieder darüber, die jeder kennt. 2,5 Millionen Quadratmeter und 330.000 Grabstellen sind Grund genug für eine Vielzahl von Friedhofsplänen, die man sich beim Torwächter sogar in der Faltversion für die Hosentasche holen kann und groß genug für ein eigene Buslinie ist er sowieso.
Ein November-Wochenende, an dem der Nebel tief hängt und der Himmel grau in grau ist, eignet sich perfekt für einen Ausflug. Eine spannende Lektüre sind die Grabsteine allemal. Egal ob zu den Ehrengräbern um der High Society von anno dazumal einen Besuch abzustatten oder sich durch den verfallenen jüdischen Friedhof zu schleichen. Hier steht etwa zu lesen: Tod, wo ist dein Friede? Eine Frage, die verständlich wird, wenn man die Besucher- und Touristendichte an den Ehrengräbern sieht.
Andere Grabinschriften erschließen sich einem wiederum gar nicht. Witzig sind manche trotzdem. Wer wohl hier unter den andächtigen Worten „Pussy Oma“ begraben liegt?
Die Nekropolis Wiens ist in strenge Bezirke eingeteilt, die von Straßen und Wegen durchzugen wird. An manchen Kreuzungen kann einem schon schwindlich werden, so weit fädeln sich in alle Richtungen die Grabsteine auf.
Und dann tritt man mal über die Straße direkt in eine andere Welt und eine andere Zeit. Unvermittelt hat der ehemahlige jüdische Friedhof begonnen. Ein Ort, an dem die Zeit über Trauer und Schmerz den Sieg davon getragen hat und sich die Natur zurücknimmt, was Menschen nicht weiterführen konnten.
Die verfallenen Gräber und überwachsenen Marmorblöcke sind eindrucksvolles Zeichen dafür, welch Reichtum an Kultur und Geschichte die Stadt verloren hat durch die Verbrechen der Judenverfolgung.
Man tritt durch die überwachsenen Hohlwege und wird ganz still. Wie die Grabsteine lässt man traurig den Kopf sinken, wenn man sich all die Familien vorstellt, deren letztes Mitglied hier begraben ist. Manchmal lehnen sich schluchzende Grabsteine aneinander und klagen einander ihr Leid.
Langsam und gemächlich macht man sich auf den weiten Weg zurück zum Haupttor und weiß wieder einmal von Neuem: Wien ist da am besten, wo es verborgen und still ist; wo es seine Geschichte zeigt, aber nicht aufdringlich schreit. Wo nur wenige durchdringen und sich berühren lassen.
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